Andrea Lipp
Ohne Schulterherein, Kruppeherein und ihre Konterlektionen kein gerades, versammeltes und gesundes Reitpferd. Andrea Lipp, die klassisch-barock ausbildet, baut Seitengänge deshalb gleich nach der Remontenschule ein – wie ihr Lehrmeister, der Wiener Oberbereiter Andreas Hausberger. Ihr Appell: Reitet Seitengänge nicht in Ehrfurcht verkrampft, denn dank innerer Bilder sind sie leichter als ihr denkt!
Versammlung, das große Ziel klassischer Dressur, wird möglich durch die Fähigkeit des Pferdes, seine Hanken immer mehr zu beugen. Die Hanken, auch das ist bekannt, sind die drei großen Gelenke der Hinterhand: Hüfte, Knie- und Sprunggelenk. Was nicht alle Reiter wissen: Genau diese drei großen Gelenke müssen in der Vorwärts-Seitwärts-Bewegung der Seitengänge stärker gebeugt werden; das Pferd trainiert über die Seitengänge also exzellent seine Lastaufnahme mit der Hinterhand und wird befähigt, das eigene und das Reitergewicht immer mehr mit Hinterhand zu tragen. Das entlastet die Vorhand, die immer noch den Löwenanteil trägt.
Seitengänge nehmen auf der hohlen Seite das Zuviel an Gewicht von der äußeren Schulter, bringen die innere Schulter zum Arbeiten und kräftigen das innere Hinterbein. Auf der steifen Seite dehnen Seitengänge die Muskeln der äußeren Oberlinie und machen das innere, starke Hinterbein beweglicher.
Mit dem Geraderichten kommt ein zweiter Gesundheitsfaktor der Seitengänge ins Spiel. Das unausgebildete Pferd ist noch nicht gerade. Es kann, genau wie wir Menschen, eine Körperhälfte besser dehnen als die andere, läuft schief und belastet seine vier Beine ungleichmäßig. Auf der hohlen Seite fällt das Pferd stärker auf die äußere Schulter. Das Hinterbein der hohlen Seite beugt sich besser, ist aber weniger stark. Zur steifen Seite mag sich das Pferd nicht gerne biegen. Das Hinterbein der steifen Seite ist stärker, aber weniger beugsam.
Diese Geraderichtung ist, verbunden mit der Versammlung, entscheidend für die Gesundheit des Pferdes. Versammlung beugt dem Verschleiß der Vorhand vor. Geraderichtung schützt vor Überlastungserscheinungen einzelner Beine und vor den damit verbundenen orthopädischen Problemen. Klassisch korrekt in Seitengängen ausgebildete Pferde haben die beste Basis, um ihre Aufgabe als Reitpferd ein Leben lang gut auszuführen. In der Spanischen Hofreitschule in Wien sind einige Hengste bis zum Alter von 25 Jahren in den Vorführungen zu sehen.